Macht ist Gestaltungsraum. Machtmissbrauch ist missbräuchlich.
Was ist Macht – und wer hat sie wirklich? Macht begegnet uns überall: in der Politik, in Unternehmen, im Alltag – oft unsichtbar, meist unterschätzt. Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt in seinem Werk Psychopolitik, wie sich Macht im 21. Jahrhundert verändert hat: Sie befiehlt nicht mehr, sie verführt. Statt mit Repression wirkt sie durch Selbstoptimierung, Purpose und sanften Zwang. Doch gerade diese «smarte Macht» birgt Risiken: Wer glaubt, freiwillig zu handeln, merkt nicht, wie subtil er gelenkt wird. Machtmissbrauch beginnt heute nicht mit Gewalt, sondern mit Strukturen – und endet oft in der Illusion von Freiheit. Wie moderne Macht funktioniert, warum sie gefährlich werden kann – und wie wir lernen können, sie zu erkennen. Führung hinterfragen, Kontrolle verstehen und Freiheit bewahren.
Machtmissbrauch beginnt heute nicht mit Gewalt, sondern mit Strukturen – und endet oft in der Illusion von Freiheit. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Es gibt Wörter, die schon beim Aussprechen ein tiefes Echo auslösen. «Macht» ist eines davon. Es hallt durch die Geschichte, durch Politik, Wirtschaft, Philosophie und Beziehungen – und durch jede unserer Biografien. Macht ist nichts, was nur Diktatorinn:en oder CEOs besitzen.
Sie ist überall. Wer eine E-Mail schreibt, nutzt Macht. Wer eine Tür aufhält oder zufallen lässt, übt Macht aus. Und Macht ist nicht per se gut oder böse – sie ist Gestaltungsraum. Die Möglichkeit, Dinge zu formen, zu lenken, zu verändern.
Aber sobald das Wort fällt, schwingt ein Misstrauen mit. Wo Macht ist, da ist auch ihr Schatten: der Missbrauch.
Hier beginnt das Problem.
Byung-Chul Han: Die Macht des Unsichtbaren
Der Philosoph Byung-Chul Han beschreibt in seinem Werk «Psychopolitik» einen fundamentalen Wandel der Machtstrukturen: «Macht vollzieht sich heute nicht mehr als repressiver Zugriff, sondern als seduktive Steuerung. Sie verführt, statt zu befehlen.»
Während traditionelle Macht sichtbar war – der König, der befiehlt, der General, der exekutiert –, ist moderne Macht oft unsichtbar. Sie zwingt nicht, sie lenkt. Sie funktioniert nicht durch Zwang, sondern durch psychologische Mechanismen, die Menschen dazu bringen, sich freiwillig anzupassen.
Moderne Unternehmen sind Paradebeispiele: Kaum jemandem wird noch kommandiert, länger zu arbeiten. Stattdessen wird durch Firmenkultur, «Purpose» und Selbstoptimierungszwang ein Arbeitsklima geschaffen, in dem wir uns selbst ausbeuten – freiwillig, weil wir es für sinnvoll halten.
Machtmissbrauch beginnt nicht mit Gewalt, sondern mit Strukturen. Das Problem ist nicht die Macht an und für sich. Das Problem ist Macht ohne Kontrolle. Machtmissbrauch ist nicht nur der autoritäre CEO oder der korrupte Politiker. Machtmissbrauch ist auch die Verwässerung von Verantwortung.
Wenn niemand mehr klar sagen kann, wer entscheidet, sondern sich «Netzwerke» oder «Teams» hinter Strukturen verstecken. Oder die schleichende Manipulation. Wenn Menschen so gesteuert werden, dass sie ihre eigene Unterdrückung nicht nur akzeptieren, sondern als Freiheit empfinden. Und die Illusion der Wahlfreiheit. Wenn moderne Machtausübung sich als partizipativ tarnt, in Wahrheit aber längst festgelegt ist, wer gewinnt.
Byung-Chul Han nennt dieses Phänomen die «smarte Macht»: «Heute ist Macht nicht mehr negativ oder unterdrückend, sondern positiv und stimulierend. Sie tarnt sich als Freiheit.»
Gestaltungsraum oder Kontrollinstrument?
Macht als Gestaltungsraum ist notwendig. Wer gestalten will, muss Einfluss nehmen können und diesen ausüben. Führungskräfte, Politiker:innen, Künstler:innen – alle, die eine Vision haben, brauchen Raum zur Umsetzung. Und genau hier liegt die Gefahr: Wird Macht genutzt, um Dinge zu ermöglichen – oder um Menschen zu kontrollieren? Schafft sie Optionen – oder nimmt sie sie? Ist sie ein Werkzeug – oder ein Selbstzweck?
Der Soziologe Max Weber unterschied zwischen charismatischer, traditioneller und legaler Macht. Moderne Machtausübung verschmilzt oft alle drei: Sie nutzt charismatische Führungspersönlichkeiten, versteckt sich hinter Traditionen und sichert sich durch legale Strukturen ab. Wer heute Macht hat, tut es oft so geschickt, dass es kaum noch auffällt.
Die perfide Kunst des sanften Zwangs
Die wirksamste Form des Machtmissbrauchs ist nicht die offene Unterdrückung, sondern der sanfte Zwang. Die App beispielweise, die dein Verhalten lenkt. Du glaubst, du scrollst aus freien Stücken – doch dein Dopaminspiegel wird gezielt gesteuert. Die Firma, die dich «frei entscheiden» lässt. Aber wehe, du nutzt diese Freiheit anders als erwartet. Und die Politik, die «nur Empfehlungen» ausspricht. Aber die Konsequenzen bei Nichtbefolgung sind real.
Byung-Chul Han bringt es auf den Punkt: «Das neoliberale Regime ist kein Regime der Unterwerfung, sondern der Freiheit. Es beutet nicht aus, sondern erfüllt Wünsche.» Doch genau das macht es gefährlich. Denn wenn sich Ausbeutung wie Selbstverwirklichung anfühlt, gibt es keinen Widerstand mehr.
Macht braucht Kontrolle – und Bewusstsein
Macht an sich ist nicht das Problem. Sie ist ein Werkzeug. Sie kann Welten erschaffen oder zerstören. Aber sie darf nicht unbeobachtet bleiben. Die beste Waffe gegen Machtmissbrauch ist nicht Revolte, sondern Bewusstsein. Das Erkennen der Mechanismen, die uns steuern. Wer glaubt, dass er vollkommen frei ist, hat meistens einfach nur nicht gemerkt, wo die Fäden gezogen werden.
Literaturangabe
Han, Byung-Chul: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2014.