Sitzen mit Traurigkeit.
Traurigkeit gilt in unserer Kultur als Störung, als etwas, das möglichst schnell überwunden, erklärt oder transformiert werden soll. Aber Traurigkeit ist kein Defekt, sondern eine menschliche Fähigkeit. Eine, die wir verlernt haben. Wer nicht vor ihr flieht, sondern bei ihr bleibt, betritt einen Raum jenseits von Aktivismus, Betäubung und Rückzug. Dort geschieht etwas Unauffälliges und zugleich Grundlegendes: Selbstregulation statt Kontrolle, Würde statt Funktionieren, und eine leise Freiheit, die nicht aus Lösungen entsteht, sondern aus Präsenz.
Traurigkeit ist keine Störung, die behoben werden muss, sondern eine menschliche Fähigkeit, die wieder gelernt werden will. Künstler: Robi the dog – Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Traurigkeit ist keine Störung, die behoben werden muss, sondern eine menschliche Fähigkeit, die wieder gelernt werden will. Wer sie nicht wegmacht, sondern bei ihr bleibt, übt Selbstregulation, Würde und eine stille Form von Freiheit.
Warum Traurigkeit so schwer ist auszuhalten
Traurigkeit ist eine der am schlechtesten ertragenen Emotionen unserer Zeit. Nicht, weil sie selten ist, sondern weil sie nichts tut. Sie produziert nichts. Sie optimiert nichts. Sie kann nicht beschleunigt werden. Das macht sie verdächtig.
In unserer Kultur, die Bewegung mit Leben verwechselt, wirkt Traurigkeit wie Stillstand. Dabei ist sie oft das Gegenteil. Sie ist ein inneres Arbeiten. Ein langsamer Prozess. Ein seelischer Umbau nach Verlust, Enttäuschung, Abschied oder schlicht nach der Erkenntnis, dass etwas nicht so geworden ist, wie wir es gehofft hatten.
Traurigkeit verlangt keine Lösung, sondern Beziehung.
Die typischen Fluchten: Aktivität, Intensität, Isolation
Unsere gängigen Reaktionsmuster sind bekannt. Aktivität. Hyperaktivität. Funktionieren. Ablenkung. Oder das Gegenteil. Rückzug, Abschottung, Isolation. Manchmal auch die Flucht in Intensität: Überreizung, Drama, Hypersexualisierung, Drogen, Extremsport. Alles, nur nicht stillbleiben. Alles, nur nicht sitzen.
Aktivität ist nicht das Problem. Sport, Arbeit, Projekte, Begegnungen können Ausdruck von Lebendigkeit sein. Kritisch wird es dort, wo Aktivität zur automatischen Emotionsregulation wird. Wo sie nicht aus einem inneren Ja kommt, sondern aus dem Impuls, etwas nicht fühlen zu müssen.
Dasselbe gilt für sexuelle Intensität. Sexualität ist an sich kein Umweg. Sie wird es dann, wenn sie nicht Verbindung ist, sondern Betäubung. Wenn Erregung das Gefühl ersetzt. Wenn der Körper benutzt wird, um den Schmerz zu übertönen.
Auch Rückzug ist ambivalent. Es gibt den heilsamen Rückzug: bewusst, zeitlich begrenzt, mit einem inneren Raum, der offen bleibt. Und es gibt Isolation: einen Schutzpanzer, der vor Beziehung schützt, vor Spiegelung, vor dem Gesehenwerden in der eigenen Verletzlichkeit. Der Unterschied liegt nicht im Verhalten, sondern in der inneren Haltung.
Emotionen verschwinden nicht, wenn man sie wegdrückt
Psychologisch betrachtet ist Traurigkeit eine primäre Emotion. Sie ist kein Fehler, kein Defizit, kein Symptom per se. Sie signalisiert Verlust, Abschied, Nichterfüllung, Endlichkeit. Wer Traurigkeit wegmacht, bekämpft nicht ein Problem, sondern ein Signal.
Die Forschung zur Emotionsregulation zeigt seit Jahren ein stabiles Muster: Unterdrückte Gefühle verschwinden nicht. Sie verlagern sich. In den Körper. In Symptome. In chronische Anspannung. In Erschöpfung. In depressives Erleben. Oder in eine permanente Betriebsamkeit, die von aussen wie Stärke aussieht und von innen wie Flucht.
Neurobiologisch lässt sich ebenfalls plausibel erklären, warum Sitzen helfen kann. Wenn wir eine Emotion bewusst wahrnehmen, benennen und zulassen, stärken wir jene Prozesse, die für Selbstregulation zuständig sind. Nicht Kontrolle im Sinne von Wegdrücken, sondern Integration im Sinne von Verarbeiten. Gefühle werden weniger bedrohlich, wenn sie nicht länger als Gefahr behandelt werden.
Das ist kein Trick. Es ist eine Lernbewegung des Nervensystems.
Leiden entsteht oft durch Widerstand
In kontemplativen Traditionen wird Traurigkeit nicht als Hindernis betrachtet, sondern als Teil des menschlichen Spektrums. Sie ist weder zu kultivieren noch zu vertreiben. Sie ist zu erkennen. Achtsamkeit bedeutet hier nicht, sich besser zu fühlen, sondern wahrer zu fühlen. Der Schmerz entsteht nicht nur durch die Emotion selbst, sondern durch den Widerstand gegen sie. Durch das innere Nein. Durch das permanente Verhandeln mit dem Unvermeidlichen.
Das gilt auch jenseits des Buddhismus. In christlichen Wüstentraditionen findet sich eine ähnliche Haltung. Acedia, diese seelische Schwere, wurde nicht mit Aktionismus bekämpft, sondern mit Bleiben. Mit Wachheit. Mit dem Mut, die innere Landschaft nicht sofort umzugestalten.
Spirituell gesehen ist Traurigkeit nicht das Gegenteil von Licht. Sie ist oft der Schatten, der zeigt, wo etwas wirklich wichtig war.
Was «sitzen» konkret heisst
Sitzen mit Traurigkeit meint Präsenz ohne Intervention. Wahrnehmen ohne Analyse. Spüren ohne sofortige Geschichte. Das klingt simpel. Es ist anspruchsvoll. Sitzen heisst: dem Körper erlauben, die Emotion zu tragen. Den Druck in der Brust zu spüren. Die Schwere im Bauch. Die Müdigkeit. Die feuchte Kehle. Den Blick nach unten. Den Impuls, wegzugehen. Und trotzdem dazubleiben.
Nicht wegrationalisieren. Nicht wegdiskutieren. Nicht therapieren. Auch nicht spirituell überhöhen. Kein Mantra als Flucht. Keine Erkenntnis als Exit. Einfach Kontakt. Manchmal hilft eine leise innere Sprache, die nichts löst, aber begleitet: Ich bin hier. Ich spüre das. Es darf da sein.
Der Unterschied zwischen Fühlen und Ertrinken
Viele von uns vermeiden Traurigkeit, weil sie befürchten, darin zu versinken. Diese Angst ist nicht lächerlich. Sie ist oft biografisch begründet. Wer in der Vergangenheit mit seinen Gefühlen allein war, hat gelernt, dass Emotionen gefährlich sind. Sitzen bedeutet deshalb nicht, alles ungefiltert zu öffnen. Es bedeutet Dosierung. Pendeln. Ein bisschen Nähe, ein bisschen Abstand. Wie beim Blick in die Sonne: kurz hinsehen, wieder wegsehen, wieder hinsehen.
Hier liegt ein wichtiger Punkt: Sitzen ist nicht Passivität. Es ist eine aktive Form von Selbstkontakt. Ein Training, bei sich zu bleiben, ohne sich zu überwältigen.
Die Intelligenz der Traurigkeit
Traurigkeit ist langsam. Sie zwingt zur Entschleunigung. Sie zieht den Körper nach unten. Sie senkt den Blick. Evolutionsbiologisch ergibt das Sinn. Traurigkeit signalisiert Rückzug, Schonung, Innehalten. Unsere Gesellschaft, die permanent nach vorn will, empfindet das als Störung.
Doch genau hier liegt ihre Intelligenz.
Traurigkeit macht Platz. Sie räumt innerlich um. Sie verabschiedet Illusionen. Sie löst Bindungen, die nicht mehr tragen. Sie ehrt, was war. Und sie bereitet, oft unbemerkt, einen neuen Kontakt zum Leben vor, der weniger auf Fantasie und mehr auf Realität basiert.
Eine stille Praxis der Würde
Wer mit Traurigkeit sitzt, lernt, dass Gefühle kommen und gehen. Dass sie Wellen sind, keine Identitäten. Dass man nicht handeln muss, um existent zu sein. Dass Würde nicht aus Produktivität entsteht, sondern aus Präsenz.
Das ist unbequem. Und radikal. In unserer Kultur der Selbstoptimierung ist das Sitzen mit Traurigkeit ein stiller Akt des Widerstands. Nicht gegen das Leben. Sondern für ein vollständiges.