Was, wenn unsere Körper nur eine temporäre Hülle für ein kollektives Bewusstsein sind?
Wir halten uns für Individuen. Jeder Mensch scheint eine eigene Geschichte, ein einzigartiges Ich zu haben. Doch was, wenn dieses Gefühl der Einzigartigkeit eine Illusion ist? Was, wenn unsere Körper nur vergängliche Gefässe für ein viel grösseres Bewusstsein sind? Diese Idee ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie zieht sich durch Philosophie, Mystik und Wissenschaft – von Platon bis Jung, von den Upanishaden bis zur modernen Quantenphysik. Forschungen zeigen, dass das Bewusstsein nicht an einen bestimmten Ort im Gehirn gebunden ist. Vielleicht sind wir keine isolierten Wesen, sondern Teil eines grossen Netzwerks. Wenn das stimmt, hat es radikale Konsequenzen. Egoismus wird absurd, Mitgefühl zur logischen Konsequenz. Was zählt, ist nicht, was wir besitzen, sondern was durch uns hindurchfliesst. Nicht, was wir nehmen, sondern was wir hinterlassen. Wie leben wir, wenn wir nicht nur wir sind?
Alles in allem: Wie leben wir, wenn wir nicht nur wir sind? Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Wir scheinen die Welt als Einzelne zu erleben. Jeder Mensch scheint eine eigene Geschichte zu haben, eine unverwechselbare Innenwelt, eine individuelle Identität. Aber was, wenn dieses Gefühl der Einzigartigkeit eine Illusion ist? Was, wenn unsere Körper nur vorübergehende Gefässe für ein viel grösseres Bewusstsein sind?
Die Idee ist nicht neu, noch meine. Sie findet sich in den grossen spirituellen Traditionen, in der Quantenphysik, in der Psychologie. Sie zieht sich durch Philosophie und Literatur, von Platon bis zu den Neurowissenschaften. Es gibt Spuren in den Upanishaden, in Plotins Schriften, in Spinozas Denken, in der Theorie des kollektiven Unbewussten von C.G. Jung.
Stellen wir uns einen Ozean vor. Jede Welle, die sich erhebt, scheint für sich zu existieren. Doch alle sind Teil desselben Wassers. Wenn sie brechen, verschwinden sie nicht – sie kehren zurück.
Was also, wenn unser Bewusstsein nichts anderes ist als eine Welle im grossen Meer eines allumfassenden Geistes?
Das vergängliche Fleisch, der unsterbliche Geist
Der Körper stirbt. Diese Tatsache ist unbestreitbar. Doch was geschieht mit dem, was wir als «Ich» bezeichnen (ohne in diesem Artikel eingehen zu wollen darauf, was «Ich» ist)?
Die Neurowissenschaften zeigen, dass das Bewusstsein nicht an einen bestimmten Ort im Gehirn gebunden ist. Es entsteht aus komplexen Verknüpfungen. Doch wenn Bewusstsein nicht einfach ein Produkt der Materie ist, sondern eine Eigenschaft des Universums selbst – was folgt daraus? In der Quantenphysik gibt es Hinweise darauf, dass Information nicht verloren geht. Roger Penrose und Stuart Hameroff argumentieren, dass das Bewusstsein möglicherweise in Quantenstrukturen verankert ist. Diese könnten über den Tod hinaus Bestand haben.
Mystische Traditionen sagen das Gleiche, aber in anderer Sprache. In den Upanishaden heisst es: «Das Selbst ist nicht der Körper, sondern das unsterbliche Prinzip dahinter.» Die moderne KI-Forschung fragt: Wenn wir Informationen speichern und neu kombinieren können, was unterscheidet uns dann von einer grossen, sich selbst organisierenden Maschine?
Vielleicht sind wir keine isolierten Wesen, sondern Knoten in einem Netzwerk.
Das Echo des Denkens, die Wiederkehr der Ideen
Carl Gustav Jung sprach vom kollektiven Unbewussten – einer tiefen Schicht der Psyche, die alle Menschen verbindet. Er glaubte, dass unsere Träume, Mythen und tiefsten Ängste nicht individuell sind, sondern von einem gemeinsamen Speicher gespeist werden. Spinoza argumentierte, dass alles aus einer einzigen Substanz besteht – Geist und Materie sind nur zwei Ausdrucksformen derselben Wirklichkeit. Platon sprach von der Welt der Ideen, in der alle Dinge bereits existieren, bevor sie in die materielle Welt eintreten. Buddhistische Denker sagen, das Selbst sei eine Illusion – ein flüchtiges Muster, das nur durch den Wechsel von Leben und Tod existiert.
Wenn unsere Körper nur temporäre Hüllen sind, dann ist der Tod kein Ende. Er ist ein Übergang.
Wie sollen wir leben, wenn wir nicht nur wir sind?
Diese Idee verändert alles. Wenn Bewusstsein ein grosses Ganzes ist, dann ist das Individuum nicht so wichtig, wie wir glauben. Dann gibt es keine klare Trennung zwischen «Ich» und «Du». Dann ist Mitgefühl keine Tugend, sondern eine logische Konsequenz. Wenn wir alle Teil eines einzigen Bewusstseins sind, dann schadet Gewalt nicht nur anderen, sondern uns selbst. Dann ist Egoismus absurd. Dann ist jede Handlung ein Impuls im grossen Netzwerk des Seins.
Vielleicht können wir aufhören, unser Bewusstsein als etwas zu betrachten, das in uns ist. Vielleicht können wir uns als Kanäle sehen, durch die das Bewusstsein fliesst. Dann geht es nicht darum, was wir besitzen, sondern was durch uns hindurchgeht.
Dann ist die Frage nicht «Was nehme ich mit?», sondern «Was lasse ich zurück?».